31 Tage - 31 Bücher Bücher Projekte

Tag 4 – dein Hassbuch

4 Jul ’10

Charlotte Roche – Feuchtgebiete

Ich habe schon einige gute, zumindest aber unterhaltsame Bücher gelesen, die viele Leute als Mist bezeichnet haben. In der Regel lasse ich mich eben nicht vom Urteil Dritter leiten, wenn es um meinen Lesestoff geht; vielmehr treibe ich dahin, hole mir Inspiration für weitere Lesereisen aus Büchern und von Autoren, die mich richtig mitreißen: So kam ich über George Orwell zu Henry Miller; so brachte mich Max Frisch zu Uwe Johnson, wurde ich von Helmut Krausser auf Jörg Fauser eingeschworen – und lernte über Daniel Kehlmann die guten Seiten von Thomas Glavinic kennen. Auch liebe ich etwa die Bücher von Robert Schneider, der für fast jedes Buch nach Schlafes Bruder mit ungerechtfertigt-vernichtender Kritik abgestraft wurde. Egal, der Mann schreibt wunderbar und bringt in jedem Absatz seines Kristus mehr Thrill unter als ein Dan Brown auf 700 illuminierten Seiten.

Umgekehrt langweilte mich beispielsweise die Esoterik-Schreibe eines Paulo Coelho fast zu Tode, und ich würde lieber noch fünf Mal Antoine de Saint-Exupérys Kleinen Prinzen begleiten als nur ein weiteres Kapitel aus Coelhos Feder lesen zu müssen. Zu Heinrich Mann habe ich ein gespaltenes Verhältnis, seit ich mich an der Uni Wien zum Referat über dessen Untertan (http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Untertan) einteilen ließ. An der Figur des Diederich Heßling, dieser abstoßenden kleinen Pissnelke, wäre ich um ein Haar verzweifelt. Die letzten 30 Seiten habe ich geskippt und beim Referat geblufft, und dennoch ordne ich den Untertan als wichtiges und durchaus lehrreiches Werk ein.

Was mich jedoch so richtig ärgert ist, durch falsche Fährten zur Lektüre eines vermeintlich guten Buches verleitet zu werden. Ich meine: Bei Axolottl Roadkill war klar, dass es nicht sonderlich gut sein kann – aber wer halbwegs über das aktuelle Geschehen am deutschsprachigen Literatursektor informiert sein wollte, musste es eben doch lesen. Und allein um mit eigenen Augen festzustellen, wieviel Helene Hegemann tatsächlich vom Blogger Airen und weiteren (auch in der vierten Auflage nur teilweise genannten) Autoren abgeschrieben hat, lohnt sich die Quälerei durch das zähe Textkonglomerat.

Um also zum eigentlichen Thema zu kommen: Ich erinnere mich an ein Spiegel-Interview (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-55946183.html) mit Charlotte Roche Ende Februar 2008, zur Veröffentlichung ihres Romandebüts Feuchtgebiete. Natürlich wusste ich Roche einzuordnen, hatte jedoch nie eine ihrer Fernsehsendungen gesehen, denn – ja, das gibt’s – ich bin ohne Kabel- und Satelliten-TV aufgewachsen. Ehrlich gesagt weiß ich bis heute nicht einmal, wie man Roches Namen korrekt ausspricht: Eher französisch, also „Rosch“, oder doch mehr dreckig-britisch, „Roach“, wie die Schabe? Die norddeutsche, an den bekannten Knorpelfisch erinnernde Variante schließe ich jedenfalls aus. Nun, das Gespräch im Spiegel zeichnete das Bild einer sympathischen, witzigen jungen Frau, die Roche wohl auch ist. Es ging um die Frage des geplanten Skandals, des Tabubruchs; es ging um Pornographie, Körperkult und Humor. Vor allem ging es aber um die Gleichberechtigung der Geschlechter, um Feminismus. Den habe sie, Roche, „mit der Muttermilch aufgesogen“, wie sie erklärte. Sie habe von ihrer Mutter gelernt, „dass die Welt frauenfeindlich ist und dass es noch viel zu tun gibt, bis Frauen dieselben Chancen haben wie Männer.“ Darum also, dachte ich, geht es in dem Buch: ein Irrtum.

Ich beschloss, meine Freundin – pardon, wir sind erwachsen: Lebensgefährtin – mit diesem Manifest der modernen Frau zu beglücken; einem Buch, das ich selbst nicht gelesen hatte, was relativ untypisch für mich ist. Schon kurz darauf fragte sie mich charmant, ob es mir noch gut gehe. Also holte ich die Lektüre schleunigst nach – und frage mich noch heute, ob der Feminismus der Feuchtgebiete bereits im Klappentext oder erst in den Anfangszeilen verloren gegangen ist. Man kann den Plot sehr knapp zusammen fassen, dann sieht es in etwa so aus: Mädchen rasiert sich den Hintern und verletzt sich böse am Anus; liegt im Krankenhaus und fantasiert, nun Vater und Mutter wieder zusammen bringen zu können; legt dem Leser dar, sich gerne mit Avocado-Kernen zu befriedigen und eine Vorliebe für den Geschmack ihres Muschisafts zu haben; beschreibt ihr seltsames Sexualleben und verliebt sich in ihren Krankenpfleger, der sich am Ende zu ihr bekennt.

Das Buch liegt nun schon seit einiger Zeit in einer Kiste. Die Kiste steht etwa zehn Meter unter mir im Keller, zwischen allerlei Krempel. Die Handlung habe ich nach gut zwei Jahren, ohne Google-Hilfe, aus dem Gedächtnis wiedergegeben, und ich bin sicher: Mehr steckt nicht drin. Das Ganze ist übrigens nicht sehr gut geschrieben, aber dafür – der Spiegel hat’s vermutet – als Geschäftsidee raffiniert geplant. Hat sich auch verkauft wie warme Semmeln, das Buch, wobei ich jedem, der es gerne etwas „schärfer“ mag, den schon erwähnten Henry Miller als Alternative nahe lege: Da gibt’s zwischen den mannigfachen Kopulationsschilderungen wenigstens eine echte Handlung.

Hass: Das mag vielleicht ein übertriebenes Gefühl sein, wenn man von einem Buch spricht, das einen so enttäuscht hat. Die erfolgte Einordnung unter „Krempel“ erfüllt denselben Zweck. Oder, wie es Thor Kunkel (http://www.thorkunkel.com) formuliert hat: „Roches dünnes Büchlein ist leider Beschiss.“

Feuchtgebiete – Charlotte Roche auf amazon.de


Bernhard Madlener (mad) ist 30 Jahre alt und lebt seit Herbst 2000 in Wien. Der einstige Vorarlberger arbeitet als Journalist und ist derzeit für den Standard tätig. Anfang 2010 wurde madication (www.madication.eu) als Headquarter für alle (mad)-Projekte installiert. Im dazugehörigen Blog (http://mad.madication.eu) gibt es regelmäßig Buch- und Plattenrezensionen sowie Stellungnahmen zu Politik und Gesellschaft zu lesen.

0

13 Comments

  • Reply lena 4 Jul ’10 at 10:56

    ich /wusste/, dass bei hassbuch “feuchtgebiete” kommt!

  • Reply bodensatz 4 Jul ’10 at 11:02

    Danke!!!! Endlich fühle ich mich verstanden. Ich kaufte dieses Buch ewige Zeit nachdem der Hype darum vorbei war. Weil es scheinbar alle gelesen haben. Sogar Menschen in meinem Umfeld die nie Bücher anfassen. Und wie es doch gelobt wurde. Dieses Ekelwerk. Ich quälte mich durch, versuchte an einigen Stellen den spontanen Brechreiz zu unterdrücken und war enttäuscht. Naja. Wenigstens kann ich mitreden. Und jedem der sich dieses Buch antun will davon abraten. Ich glaube ich habe während des Lesens sogar Ekelherpes an der Lippe bekommen. Das habe ich verdrängt.

  • Reply lena 4 Jul ’10 at 11:04

    und noch was: ich hab mir den diskurs um axolottl roadkill / hegemann / airen auch gegeben, und muss schlussendlich sagen,ich finds gut, dass die geschichte eine erneutige diskussion zum geistigen eigentum / urheberrecht entfacht hat, und was ich noch besser finde, ist das alle “großen” literaturkritiker den “einfluss” natürlich nicht erkannt haben, aber sobald sich dann ein paar hobbyliteraten zu wort gemeldet haben, war es natürlich allen sofort klar.

    ich befürcht nur, dass jetzt h. hegemann es bei ihrem nächsten buch nicht leicht haben wird (sofern sie sich überhaupt traut eins zu schreiben) – aber jaja, hätte sie sich vorher überlegen sollen.

    ich habs übrigens nicht gelesen, bin aber jedesmal schwer am überlegen. aber ich kann einfach auch mit junger, drogenfickexzess-schreibkultur grad nicht so gut umgehen.

  • Reply Tweets that mention Tag 4 – dein Hassbuch | ivy machts net -- Topsy.com 4 Jul ’10 at 11:26

    […] This post was mentioned on Twitter by Iwona W. and Bernhard Madlener. Bernhard Madlener said: Es war mir ein innerer eh-schon-wissen ;-) RT @iwona_w Tag 4 – Dein Hassbuch: http://bit.ly/difSg6 #3131 #literatur […]

  • Reply mxfanta 4 Jul ’10 at 14:37

    das leben ist zu kurz für schlechte bücher.

    (andererseits auch zu kurz für schlechte filme, fussballspiele, gespräche usw doch das führt zu weit)

    bei feuchtgebiete kann ich nicht mitreden. nicht gelesen und werde es auch nie. danke für die warnhinweise.

  • Reply (mad) » Blog Archive » 31 Tage – 31 Bücher 4 Jul ’10 at 20:07

    […] Mein Artikel steht mittlerweile bei Ivy online und ist, samt weiteren Infos zur Aktion, auch hier abrufbar.) Share var button = […]

  • Reply Pixi 6 Jul ’10 at 17:28

    Ich kann mich dem nur anschließen. Fand das Buch auch unglaublich mies. Aber ehrlich gesagt fand ich Fräulein Roche noch nie wirklich lustig oder besonders intellektuell. Dennoch war ihr Buch um Welten mieser als ihre TV-Auftritte. Mit Literatur oder Kunst hat ihr Buch nichts zu tun, und mit Feminismus schon mal gar nicht.

    Es ist zwar gut Dinge offen auszusprechen aber dies sollte dann doch auf einem gewissen Niveau erfolgen. Ich denke, sie wollte mit ihrem Buch nur Aufmerksamkeit, schließlich war ihre Medienpräsenz davor eher spärlich. Durch den Hype und den Verkauf ihres Buches hat sie nun bestimmt wieder genug Geld für die nächsten Jahre und belästigt die Menschheit somit hoffentlich nicht wieder so schnell mit solchen grausamen Ergüssen.

    Lg.

  • Reply Rik 6 Jul ’10 at 17:42

    Würde die gute Frau Roche ein hässliches übergewichtiges und stotterndes Etwas sein, das Buch hätte niemand geschenkt bekommen wollen. Weil die Vorstellung zumeist mit dem Bild der Autorin ergänzt oder ausgefüllt wird. Und, seien wir ehrlich, die gute Roche möchten wir dann schon gerne livehaftig erleben, wie sie sich mit Avocado-Kernen in die höchsten Lust-Extasen hochschaukelt. Vermutlich auch eine Form der Verschaukelung. Aber so läuft es eben ab, im Literatur-Biz. Und Bücher werden selten über den Inhalt, vielmehr über das Drumherum verkauft.

    Da greifen wir besser zu Henry Miller (“Stille Tage in Clichy” habe ich vor Jahren gelesen und bin noch heute sehr angetan, von diesem schmalen Büchlein). Der wusste noch, wovon er schrieb.

  • Reply fatmike182 6 Jul ’10 at 18:01

    ähm, Zwischenfrage: warum wurde das Buch überhaupt gelesen?
    Wie mediendominiert aber prüde sind Großteile unserer Gesellschaft? War die Menschheit puncto Akzeptieren von natürlichen Vorgängen da nicht schon mal weiter?
    Halte das Buch (ohne es gelesen zu haben selbstverständlich) für eine gelungene Selbstinszinierung einer mediengeilen Dame, die offenbar ihre Verklemmtheit in Möchtegern-tourette auslebt.

  • Reply GittiSchimek 6 Jul ’10 at 20:01

    Ganz ehrlich, Ich mochte das Buch. Finde im Grunde geht es gar nicht um die angeblich so ekelerregenden Szenen sondern um eine psychisch schwer angegriffene Hauptperson. Gut, große Literatur ist es nicht, aber das war ja auch nicht die Intention.
    Woher der große Aufschrei kam habe ich nie verstanden. Die Leute konsumieren Pornos wie früher Ybbs-Hefterln und laufen zum/zur Artzt/Ärztin, um sich Gift oder Plastik in den Körper zu pumpen, aber wenn es um reale(re) Darstellung von Körperflüssigkeiten, -gerüchen und -teilen geht, werden plötzlich alle ganz nervös.

  • Reply (mad) 9 Jul ’10 at 00:14

    @fatmike: warum ich das buch gelesen hab? steht eh drin: „Ich beschloss, meine Freundin (…) mit diesem Manifest der modernen Frau zu beglücken; (…). Schon kurz darauf fragte sie mich charmant, ob es mir noch gut gehe. Also holte ich die Lektüre schleunigst nach.” ich war schlicht unter rechtfertigungsdruck ;-)

    @Gitti: du hast im prinzip recht.

    ach ja: lest mehr thor kunkel!!

  • Reply (mad) | 31 Tage – 31 Platten 15 Jul ’10 at 22:42

    […] für Tag eine interessante Buchrezension zu präsentieren. Mit Freude habe ich mich daran beteiligt, und mit noch mehr Freude habe ich die restlichen 14 Texte gelesen, die bis heute […]

  • Reply bobschi 21 Jul ’10 at 19:41

    Sehe das recht ähnlich wie Gitti. Hab’s unterhaltsam gefunden, wieder lesen würde ich es allerdings nicht.

    Ich hab das Buch dann genutzt, um besonders prüde Freund_Innen von mir zu “erschrecken”, indem ich sie zu einem rein lesen überredet hab. Die Reaktionen waren lustig zu sehen. Für mehr ist es nicht gut.^^

  • Leave a Reply to Rik Cancel Reply