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Tag 25 – Ein Buch, bei dem die Hauptperson dich ziemlich gut beschreibt

25 Jul ’10

 

Erste Sätze. Mit den ersten Worten die uns der Autor entgegenwirft wird oft das Urteil schon unterschrieben. Zeitschriften veranstalten Wahlen zum beliebtesten ersten Satz, Literaturwissenschaftler schreiben seitenlange Abhandlungen über Klassiker, deren erste Sätze und deren Bedeutung und eine häufige Frage im Literaturquiz bezieht sich auf eben diese ersten Sätze.

Warum ich diese Buchbeschreibung mit einer Abhandlung über erste Sätze beginne sei später erklärt. Im Zuge der Überlegungen, die ich mir zu „Tag 25 – Ein Buch, bei dem die Hauptperson dich ziemlich gut beschreibt“ gemacht habe, war der erste Satz ein permanentes Thema. Ich habe also begonnen in meinem Bücherschrank relativ wahllos Bücher rauszuziehen von denen ich vermutet hatte, dass sie wahnsinnig gut oder wahnsinnig schlecht beginnen würden. Ich habe absichtlich darauf verzichtet Klassiker herauszuziehen, außer es waren Bücher, die eine große Bedeutung für mich haben.

Eine kleine Auswahl sei hier gegeben:

„Als er bei Neapel vor einem Lokal parkte, hatte Beck acht Stunden Fahrt und sein ganzes Leben hinter sich.  (Benedict Wells – Becks letzter Sommer)

„In unserer Verwandtschaft machen sich Verfallserscheinungen bemerkbar, die man eine Zeitlang stillschweigend zu übergehen sich bemühte, deren Gefahr ins Auge zu blicken man nun aber entschlossen ist.“  (Heinrich Böll – Nicht nur zur Weihnachtszeit)

„Dies ist ein Erinnerungsbericht, bedenken Sie aber bitte, dass für jeden phantasiebegabten Schriftsteller alle Erinnerungen falsch sind.“ (John Irving – Rettungsversuch für Piggy Sneed)

„Meine Frau Utschka (deren Namen ich vor einiger Zeit zu Utsch verkürzt habe) könnte einer Zeitbombe Geduld beibringen.“ (John Irving – Eine Mittelgewichtsehe)

„Ich halte mich für etwas ganz besonderes.“ (Karin Fossum – Also von mir aus)

„Um sich auszuziehen, kommt niemand nach Minnesota – zumindest nicht soweit ich weiß.“ (Diablo Cody – Nackt)

Und  zum Schluss der ersten Sätze eins der Buch-Exemplare, deren Besitz ich immer umständlich mit „Wochenlanger Urlaub mit Freunden, Spaßgeschenk und am Ende in meinem Gepäck gelandet“-erklären muss, und das wohl demnächst auf dem nächsten Pfarrflohmarkt landen wird, hat die Ehre den schlechtesten Beginn in meiner Büchersammlung zu haben: „An meinem 27. Geburtstag hielt ich ein ganz besonderes Geschenk in der Hand: meinen ersten Pornoschwanz.“

Kurzum, Der Versuch uns Lesende in den Bann zu ziehen gelingt damit oder scheitert mit den ersten Sätzen. Zumindest sagt man das, und bis vor ein paar Minuten war ich selbst davon überzeugt. Dann machte ich eine Entdeckung: Kaum eines der Bücher die ich liebe, beginnt mit einem herausragend tollen Satz. Das habe ich heute zum ersten Mal wirklich bewusst entdeckt, da ich von einem Buch erzählen möchte, dessen erster Satz wahnsinnig scheußlich ist: „Eine Depression ist ein fucking Event!“.

Das Buch ist von Sarah Kuttner und heißt  „Mängelexemplar“.

Sarah Kuttner ist eigentlich Moderatorin, ein Schnattermaul, polarisiert und wird eigentlich schnell mal einfach nicht gemocht. Ihre Kolumnen-Bücher sind voll mit Witz und Charme und durchaus als leichte Unterhaltung sehr gut genießbar. Ich habe 2009 gehört, dass sie jetzt auch einen Roman geschrieben hat und es hat mich eigentlich weiter nicht wahnsinnig interessiert.

Meine Popliteratur-Phase war lange gegessen, ich finde es nicht mehr wahnsinnig originell wenn in einem Buch permanent die Wörter Arschloch, Fuck und Scheissdreck vorkommen, kurzum, schöne Sprache war bei mir gerade in meinen Lesegewohnheiten sehr willkommen. Anfang 2010 bin ich dann irgendwann durch den nahen Libro geschlendert und hab das Buch als tatsächliches Mängelexemplar (sic!) gesehen und gekauft. Ich bin nach Hause gegangen, hab begonnen zu lesen – und bin ein paar Stunden später relativ verstört und erneut ohne neue Lektüre da gesessen. Ich kann bis heute nicht genau erklären, warum ich mich in der Hauptperson Klara so wahnsinnig wiedergefunden habe. Sie ist depressiv, besucht regelmäßig einen Psychiater, nimmt Medikamente und eigentlich ist ihr Leben so ganz und gar nicht in ihrer Kontrolle. Die einzig funktionierende Beziehung ist zu ihrem besten Freund Nelson, über die vielen kaputten Beziehungen möchte ich gar nicht schreiben. Anhand der Lebenssituationen finde ich wenig bis keine Parallelen zwischen mir und der Hauptfigur – anhand der Denkweise in manchen Situationen sehr viele. Ich hätte mir nie erwartet, dass mir ein Buch von Sarah Kuttner (!) stellenweise den Atem rauben würde und mich dazu zwingen würde, eine kurze Toilettenpause einzulegen, weil mich das alles zu sehr überwältigt. (Rein literarisch und mit Bedacht auf meine Außenwirkung wären mir vielleicht Sartre oder Camus ganz recht gewesen)

Das Buch hat mich sehr persönlich überwältigt. Ich habe in meiner Pubertät zahllose Bücher über Schicksale im zweiten Weltkrieg gelesen, die mich auch betroffen gemacht haben, aber diesmal war es anders. Genau beschreiben kann ich es nicht, dafür bin ich zu wenig Sprachdompteur und zu sehr ängstlich davor, missverstanden zu werden.

Ich habe das Buch genau einmal gelesen, ich glaube nicht, dass ich es nochmal lesen werde – ich könnte ja doch nur enttäuscht werden. Ich bin mir auch nach wie vor nicht sicher, ob ich das Buch wirklich weiterempfehlen möchte, das hat schon damals im Deutschunterricht nicht funktioniert, als ich darauf bestand, „Die Wand“ von Marlen Haushofer gemeinsam zu lesen (mein Buch für Tag 20!), und dann mit den, aus meiner Sicht, völlig unzulässigen Kommentaren meiner Mitschüler und, wieder meiner Ansicht nach, unpassenden Abhandlungen über den Feminismus im Buch seitens meiner Deutschlehrerin ja irgendwie umgehen musste.  Schlussendlich weiß ich auch deshalb, weil ich es kein zweites Mal lesen werde, nicht, ob es wirklich ein tolles Buch ist – ich erinnere mich jedenfalls ganz gerne zurück an die Stunden des Lesens, und ich glaube das reicht mir völlig.


Lena ist 23 Jahre alt, lebt und studiert in Wien und plant die Rückeroberung des öffentlichen Raums.

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4 Comments

  • Reply Tweets that mention Tag 25 – Ein Buch, bei dem die Hauptperson dich ziemlich gut beschreibt | ivy machts net -- Topsy.com 25 Jul ’10 at 10:11

    […] This post was mentioned on Twitter by Iwona W., paolo's restaurant. paolo's restaurant said: RT @iwona_w: Tag 25 von Lena: http://bit.ly/aCyi1S – "31 Tage – 31 Bücher" #3131 […]

  • Reply (mad) 25 Jul ’10 at 10:18

    Popliteratur… mit dem Vorsatz, sie nicht noch einmal zu lesen, halte ich auch „Soloalbum“ und v.a. „Livealbum“ von Benjamin v. Stuckrad-Barre, die ich im Sommer 1999 gelesen habe, noch für ganz großartige Literatur, die ich meinen Kids irgendwann um das Jahr 2025 herum als Klassiker in der Erstausgabe unter den Weihnachtsbaum schmuggeln werde :-)

  • Reply anlumo1 25 Jul ’10 at 12:13

    Also an Feminismus-Themen hätt ich bei der Wand als letztes gedacht…

  • Reply lena 25 Jul ’10 at 23:42

    soloalbum ist ein nettes buch – zu empfehlen auch das hörbuch: stucki liests vor- sehr lustig!

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