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Tag 20 – Das beste Buch, das du während der Schulzeit als Lektüre gelesen hast

20 Jul ’10

Das Buch

Jemand musste Martin P. nachdenklich gemacht haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verwandelt. P. richtete sich im Bett auf. Der Wecker hatte geläutet. Es war acht Uhr. Sofort klopfte es an der Tür und Bücher betraten sein Zimmer. Sie waren menschengroß, mit schwarzem Einband, der Titel in goldenen Buchstaben graviert, gewiss von einem besonders noblen Verlagshaus herausgegebene Prunkstücke einer jeden Sammlung. „Wer seid ihr?“ fragte P.

Stumm setzten sich die Bücher auf den Boden um P.s Bett. P. begann, sie genauer anzusehen. Da war der Schimmelreiter von Theodor Storm, die schwarze Spinne von Jeremias Gotthelf, die Physiker von Friedrich Dürrenmatt, Bahnwärter Thiel von Gerhart Hauptmann, das Leben des Galilei von Bert Brecht und noch einige andere, eher klein an Größe und vom Fuße des Bettes so weit entfernt, dass P. gerade noch auf einem den Autor Goethe zu erkennen glaubte. P. wusste, dass es die Bücher seiner Schulzeit waren, die ihn aufgesucht hatten. Freilich hatte er dies schon einige Zeit erwartet, doch zum Nachdenken blieb ihm jetzt nicht viel Zeit. Die Bücher stürzten sich auf P. Sie schlugen, traten und verletzten ihn. P. konnte sich nicht wehren. Er wusste, dass es sinnlos war, sich gegen Bücher zu wehren.

Als P. wieder zu sich kam, sah er sich im Zimmer um. Es war leer. Die Bücher waren weg. Hatte P. nur geträumt? Nein, das war auszuschließen. Er war jetzt selbst ein Buch geworden. P. frühstückte und machte sich auf den Weg zur Arbeit. P. trug weder Titel noch Autor an sich. Seine Seiten waren leer. Nur selten hatte er sich in letzter Zeit mit Büchern beschäftigt. Zu selten, wie er sich dachte. Besonders langsam war er heute unterwegs, es schien ihm, als zögen sich die Gassen der Stadt mit jedem Schritt, den er tat.

Die U-Bahn. Mühsam ließ er zahlreiche Stufen aus Beton, wie sie in dieser Stadt so häufig zu finden sind, hinter sich, der Tiefe aus Stahl und Eisen zustrebend. Die Gänge erschienen ihm heute länger und kahler als sonst, da und dort hing noch Werbung für die letztjährige Theatersaison.

Nicht zum ersten Mal seit dem Betreten der Treppe fragte sich P., ob er den Bahnsteig heute überhaupt erreichen würde, da riss ihn ein furchtbarer Stich aus seinen Gedanken hoch. P. sah sich benommen um. Es war niemand zu sehen. Dennoch war der Schmerz zu heftig, als dass er ihn sich eingebildet haben könnte. P. öffnete seinen Buchdeckel. Da und dort waren einzelne Buchstaben zu sehen, wo vorher die reine Leere die Seiten beherrschte. P. schloss den Deckel und schleppte sich weiter.

Jeder Schritt tat ihm nun höllisch weh. Einige Male stützte er sich an der Wand ab und betrachtete seine Seiten. Immer mehr füllten sie sich mit einzelnen Buchstaben, ganze Wörter waren hier und dort bereits erkennbar, sie ergaben für P. jedoch keinen Sinn: Ein „Jemand“ glaubte er auf der ersten Seite auszumachen, auch sein Name schien in dieser Zeile vorzukommen, doch alles war zu undeutlich.

P. hatte das Untergeschoss erreicht. Hier musste er sich Tag für Tag entscheiden, welche der beiden in dieser Station haltenden Linien er benutzen wollte. Sonst fiel ihm diese Entscheidung denkbar leicht, brachte ihn doch nur eine der beiden in sein Büro. Heute jedoch, benommen von den Schmerzen, die stetig schlimmer wurden, wusste er nicht, ob er sich nach links oder rechts wenden sollte. So verharrte P., seine Fassung suchend, eine Weile an der Weggabelung.

Da wurde ihm gewahr, dass zu dem Schmerz ein weiteres Gefühl hinzugekommen war. P. spürte Nässe. Wasser ergoss sich von oben auf ihn. Das musste die angekündigte Schlechtwetterfront sein, deren Starkregen sich durch die undichte Stationsdecke seine Bahn suchte. Erst jetzt begriff er, wie gefährlich das Wasser für ihn war. Doch es war zu spät. Seine Seiten sogen sich schnell voll. P. war nun nur mehr sehr schwach. Er spürte, wie ihm alles entglitt und schleuderte sich die Treppe zur U-Bahn hinunter. Auf Hilfe hoffend, stürzte er über die Stufen. Nach allen Seiten flogen die Fetzen der nassen Seiten. Unten angekommen sah er in ein gleißendes Licht.

Aus dem Zug strömten die Menschenmassen und traten und zerfetzten den nassen Haufen Papier, der im Dreck am Fuße der Treppe lag. Eine ältere Frau blieb stehen. Sie beugte sich hinunter, hob den schmutzigen Einband hoch, murmelte „Franz Kafka – Der Prozess“, schüttelte den Kopf, warf den nassen Karton in einen nahe gelegenen Papierkorb und ging ihrer Wege.


Martin Piskernig (30), Informatiker, lebt in Wien Alsergrund, arbeitet und lehrt an der Universität Wien, möchte in seiner Dissertation die Welt der Programmiersprachen revolutionieren und beschäftigt sich in seiner Freizeit vor allem mit Musik und öffentlichem Verkehr.

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5 Comments

  • Reply Tweets that mention Tag 20 – Das beste Buch, das du während der Schulzeit als Lektüre gelesen hast | ivy machts net -- Topsy.com 20 Jul ’10 at 09:50

    […] This post was mentioned on Twitter by Iwona W., Gerwin Sturm. Gerwin Sturm said: RT @iwona_w Der wirklich geile Beitrag von Martin für “31 Tage – 31 Bücher” Tag 20 http://ivy.machts.net/archives/614 sehr lesenswert! […]

  • Reply b34ker 20 Jul ’10 at 16:57

    Eine echt gelungene Antwort auf eine eigentlich einfache Frage.

  • Reply (mad) 20 Jul ’10 at 19:32

    Schöner Text. Kafka-Fans möchte ich Gottfried von Einems Adaption ans Herz legen: “Der Prozess” als schräge Oper, gibt’s auf CD. (Wenn ich ehrlich bin, brauche ich nach einem Kafka-Buch immer mal ein, zwei Jahre Pause bis zum nächsten…)

  • Reply Ivy 20 Jul ’10 at 21:58

    Ich finde den Text wirklich toll. Als Kafka-Fan ist “Der Prozess” eigentlich mein Lieblingswerk von ihm, wenn nicht eines meiner Lieblingsbücher überhaupt. So einen kafkaesken Stil anzunehmen, zu personalisieren und dann auch noch verschiedene Kafka-Themen zu mischen find ich schon großartig. Danke für den tollen Beitrag!

  • Reply 31 Tage – 31 Bücher | ivy machts net 28 Oct ’10 at 14:34

    […] das du besitzt – Lisa Tag 19 – Ein Buch, das du schon immer lesen wolltest – @cypher Tag 20 – Das beste Buch, das du während der Schulzeit als Lektüre gelesen hast – martin Tag 21 […]

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